Das Hunger Projekt in Indien

Vom 14. bis 23. Februar reisten Suna Karakas (Landesdirektorin) und Elisa Harmsen (Projektmanagerin) nach Indien. Die Reise war als Teil des offiziellen Projektmonitorings über BMZ-Projektfördermittel finanziert.

Auf ihrer Reise besuchten Suna und Elisa gemeinsam mit dem Team von The Hunger Project India die Bezirke Rewa und Satna im Bundesstaat Madhya Pradesh. Dort stärkt unser Projekt kommunale Frauenabgeordnete in ihrer Fähigkeit, in den Panchayats (Dorfräten) wirksame Führungsaufgaben für ihre Gemeinden zu übernehmen. In den Dorfgemeinschaften trafen Suna und Elisa Frauenabgeordnete, die von ihren Erfahrungen, Erfolgen und Herausforderungen berichteten. Darüber hinaus besuchten sie das Mütterkomitee eines Anganwadi (staatliches Krippenzentrum) und erfuhren, wie dieses von der Arbeit der Abgeordneten profitiert. Sie hatten auch die Gelegenheit, durch Gespräche mit der örtlichen Bevölkerung zu erfahren, welche Auswirkungen das Projekt auf ihr Leben hat. Mit dem Team von The Hunger Project India und lokalen Field Workers* sprachen sie darüber, warum das Projekt in Madhya Pradesh so wichtig ist und wie seine Wirkung auch langfristig gesichert werden kann. 

Im Folgenden erzählen Elisa und Suna von einigen Eindrücken der Projektreise:

Als wir am ersten Tag im Panchayat-Büro eines Dorfes im Bezirk Satna ankommen, werden wir herzlich von 24 Frauenabgeordnete begrüßt, die sich hier zu einem Workshop versammelt haben. Sie haben bereits die Hälfte ihrer fünfjährigen Amtszeit absolviert und werden durch das Projekt unterstützt. In regelmäßigen Trainings und Coachings bauen sie ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre Führungsqualitäten aus. Dies ermöglicht es ihnen, ihre Rechte und Pflichten als Abgeordnete effektiv wahrzunehmen und die Lebensgrundlagen ihrer Dorfgemeinschaften zu verbessern. Viele der Frauenabgeordneten kommen aus ärmeren, benachteiligten Verhältnissen. Manche von ihnen können weder lesen noch schreiben. Durch die gesellschaftlich tief verwurzelten patriarchalen Strukturen erleben die Frauen häufig Benachteiligung.

Erfolgsgeschichten: Straßen, Renten und Krankenversicherungen

Gemeinsam mit unserem Partner vor Ort The Hunger Project (THP) Indien und uns sprechen sie im Workshop über die Erfolge und Herausforderungen ihrer bisherigen Amtszeit und teilen ihre Pläne für die kommende Zeit. Viele der Frauen beschreiben stolz, wie sie in ihren Dörfern den Bau neuer Straßen angestoßen, ihre Dorfschulen renoviert und zum ersten Mal Mädchentoiletten installiert haben. Diese Toiletten ermöglichen es Schülerinnen jetzt auch während ihrer Periode die Schule zu besuchen. Mehrere Frauenabgeordnete haben auch eine Straßenbeleuchtung in ihren Dörfern durchgesetzt, damit sich Frauen und Mädchen nachts sicherer fühlen. Die Gründung von Selbsthilfegruppen (Mikrofinanz-Spargruppen*) und der Zugang zu staatlicher Unterstützung für Nahrungsmittel und Sozialleistungen sind weitere Erfolgsgeschichten für die Menschen ihrer Dorfgemeinschaften. So berichtet Sunita, eine Abgeordnete aus dem Bezirk Rewa, dass sie insgesamt 50 Familien mit dem Zugang zu Renten und Krankenversicherungen helfen konnte.

Nirmala und die 15 Frauen

Doch die Arbeit der Frauen ist nicht ohne Hindernisse. Nirmala, die als Abgeordnete einer Dorfgemeinschaft im Bezirk Satna tätig ist, war sich zu Beginn ihrer Amtszeit nicht sicher, was auf sie zukommen würde. Sie sagt, die Weiterbildungen von The Hunger Project India hätten ihr geholfen, die Verantwortung und Potenziale ihrer Rolle zu verstehen. So stellte sie fest, dass die lokale Lebensmittelausgabestelle ihres Dorfs Geld von Familien nahm, ohne Essen auszuliefern. Da Nirmalas Beschwerden allein nichts bewirkten, brachte sie eines Tages fünfzehn andere Frauen mit sich, um den entsprechenden Beamten zu konfrontieren. Nach Auseinandersetzungen auf mehreren Verwaltungsebenen wandte sie sich schließlich an den Bezirksvorstand, der wiederum die Bezirksabteilung anrief. Der gesamte Prozess dauerte ein Jahr, doch schließlich wurde der Händler der Ausgabestelle ersetzt.

Auch Sushila, die bereits ihre dritte Amtszeit als Dorfabgeordnete absolviert, weiß, dass ein langer Atem Teil der Arbeit ist, um die Dorfgemeinschaft zu verbessern: „Dies ist ein langfristiger Kampf für mich. Es ist immer die Zusammenarbeit, die etwas bewirkt.“ Durch ihr Engagement hat sie über 300 Frauen geholfen, Mitglieder von Spargruppen zu werden.

Ich kann. Wir können.

Das Projekt hat eine besondere Bedeutung, da Madhya Pradesh einer der ärmsten Bundesstaaten Indiens ist. Ein Teil der Bevölkerung gehört Kasten und indigenen Gruppen an, die historisch marginalisiert sind. Auch ein Teil der Frauenabgeordneten in unserem Projekt gehört einer dieser Gruppen an. Zusätzlich leben hier viele Kinder, die von Unterernährung betroffen sind. Familien hier leben von durchschnittlich 40 Euro im Monat. Das Projekt befähigt die Frauenabgeordnete, ihre Potenziale zu erkennen, so dass aus einem anfänglich „Ich kann nicht“ allmählich ein „Ich kann“ und schließlich ein „Wir können“ wird.

Am nächsten Tag besuchen wir im Bezirk Rewa ein Mütterkomitee. Das Komitee ist im örtlichen Creche Center, einer staatlichen Einrichtung zur Kinderbetreuung, angesiedelt. Das Mütterkomitee besteht aus stillenden und schwangeren Frauen sowie Angestellten des Zentrums. Es hat die Aufgabe, die Dorfbevölkerung mit den Angeboten der Einrichtung zu vernetzen. Dazu gehören frühkindliche Bildung, Immunisierung und Nahrungsergänzung für junge Mütter und Kinder. Die Frauenabgeordneten werden durch das Projekt in ihrer Fähigkeit gestärkt, als Mentorinnen der Mütterkomitees zu agieren. Gemeinsam entwickeln sie Aktionspläne, die die Gesundheit und die Ernährung von Frauen und Mädchen verbessern. Die Frauenabgeordneten überwachen auch die Serviceleistungen der Creche Centers und verbinden sie mit staatlichen Förderprogrammen.

Mangel- und Unterernährung überwinden

In der Gesprächsrunde erfahren wir, dass viele Frauen tagsüber körperliche Feldarbeit leisten und abends mit ihren Töchtern getrennt von den Männern essen. Oft essen die Frauen und Mädchen zuletzt und zu wenig. Wir hören auch, dass die Frauen vor ihrem Kontakt mit dem Mütterkomitee wenig über Mangel- und Unterernährung wussten. Besonders Frauen und Mädchen sind anfällig für Eisenmangel, was bei jungen Mädchen die körperliche und geistige Entwicklung beeinträchtigen kann. Die Aufklärungsarbeit des Mütterkomitees motiviert die Frauen, ihre Ernährungsgewohnheiten umzustellen und bestimmte Nahrungsmittel wie Spinat und Okra gegen Eisenarmut in den Speiseplan aufzunehmen. Eine weitere Mutter berichtet uns, dass ihr Kind an Unterernährung und Anämie litt. Das Mütterkomitee half ihr, ein Rehabilitationszentrum für Ernährung aufzusuchen. Dort wurde ihr Kind 14 Tage lang behandelt und konnte sich erholen. Die Mutter wurde durch ein tägliches Gehalt unterstützt.

Eine neue Zukunft wächst heran

Dass unser Projekt buchstäblich Früchte trägt, sehen wir auch in der Umgebung des Dorfes. Ein 14-jähriges Mädchen lädt uns zu sich nach Hause ein. Sie litt unter schwerem Eisenmangel und hatte die Schule abgebrochen. Durch den Kontakt zum Mütterkomitee erfuhr sie, welche lokal verfügbaren Lebensmittel gesund sind und wie sie vitaminschonend kochen kann. Dies motivierte sie, Gemüse in ihrem Haus anzupflanzen. Bei unserer Ankunft wachsen hier Spinat, Radieschen, Tomaten und Karela (Bittermelone). Durch das Kochen mit den eigenen Ernteerträgen konnte das Mädchen seinen Eisenmangel erfolgreich überwinden und geht mittlerweile wieder zur Schule.

Auch für die zweite Hälfte ihrer Amtszeit haben sich die Frauenabgeordneten viel vorgenommen. Sie planen, neue Creche Centers und Gesundheitszentren zu errichten, Brücken zu bauen, Lebensmittelausgabestellen zu etablieren und die Sicherheit für junge Mädchen im Dorf zu erhöhen. Sie wollen Familien animieren, ihre Kinder weiterhin zur Schule zu schicken.

Es gibt noch viel zu tun. Für die Abgeordneten bedeutet dies, weiterhin für die Rechte und Bedürfnisse ihrer Gemeinschaften einzustehen. Preeti, Abgeordnete eines Panchayats in Satna, formuliert es so: „Ich werde weiter das tun, was ich tue.“

Das werden wir auch.

*Field Workers: Mitarbeitende, die in den ländlichen Projektregionen direkt vor Ort arbeiten. Sie sind verantwortlich für das intensive Coaching, die Unterstützung sowie die Betreuung der Elected Women Representatives (EWR) und sind deren erster Ansprechpartner für die Durchführung von Aktivitäten vor Ort. Zu ihren weiteren Aufgaben gehört auch die Mobilisierung. Das heißt Familienmitglieder davon zu überzeugen, dass EWR an Schulungen teilnehmen dürfen. Dies ist wichtig, da viele aufgrund der vorherrschenden patriarchalischen Denkweise zögern.

*Mikrofinanz-Spargruppen: Mikrofinanzierungsgruppen für Frauen mit 10-15 Mitgliedern, die sich gegenseitig mit Mikrokrediten und Erspartem aushelfen

Hintergrundinformationen

1992 wurde in Indien durch eine Verfassungsänderung veranlasst, dass 50% der Sitze auf lokalen Regierungsebenen für Frauen reserviert sind. Zusätzlich werden proportional zur Bevölkerungsverteilung Sitze für Angehörige diskriminierter Kasten (Dalits) und indigener Gruppen gesichert. Dies soll sicherstellen, dass ihre Interessen bei der Gesetzgebung und -umsetzung berücksichtigt werden. Doch hierfür braucht es ein Bewusstsein in der Bevölkerung und bei den Abgeordneten, dass ihre Stimmen zählen und wie sie diese einsetzen können. Ziel dieser Reform war es u.a. die Teilhabe von Frauen und benachteiligten Gruppen zu stärken und ihnen eine Stimme in der lokalen Entscheidungsfindung zu geben. Während unserer Projektreise erfahren wir, dass viele der Frauen sich zur Wahl aufstellen lassen, weil ihre Ehemänner oder ein männliches Familienmitglied sie dazu ermutigen und hinterher informell die Kontrolle über die Entscheidungen der Abgeordneten treffen wollen. Hier setzt unsere Unterstützung an, um die gewählten Frauenabgeordneten zu schulen und zu empowern, ihre Rolle, Aufgaben und Verantwortung eigenständig auszuüben und sich untereinander zu vernetzen.

Durch das Projekt werden die Frauenabgeordneten befähigt, die Relevanz ihrer Rolle zu verstehen, und sicherzustellen, dass Programme und Dienstleistungen auf die Bedürfnisse der ärmsten Bevölkerungsgruppen einzahlen.  Sie erfahren, wie sie Entwicklungsthemen wie Geschlechter- und soziale Gerechtigkeit, Existenzsicherung, Gesundheit und Ernährung in ihre Planung aufnehmen und räumen diesen Themen in Dorfversammlungen und auf höheren Verwaltungsebenen Raum ein. Zudem bauen die Frauen ihre Führungsqualitäten aus und erhalten die Möglichkeit, sich in einem sicheren Raum mit anderen Frauenabgeordneten auszutauschen.